Montag oder Dienstag

"Ach, du liebe Zeit, das Rätsel des Lebens! Die Ungenauigkeit des Denkens! Die Ignoranz der Menschheit! (...) Ein Wunder, dass ich überhaupt Kleider am Leib habe, dass ich von soliden Möbeln umgeben bin, während ich hier sitze. Also wirklich, wollte man das Leben mit irgendetwas vergleichen, dann wäre es wie mit fünfzig Stundenkilometern durch den U-Bahntunnel geblasen zu werden - um am anderen Ende ohne eine einzige Haarnadel am Schopf wieder herauszukommen! Splitternackt herauszuschießen, Gott vor die Füße! Halsüberkopf in den Asphodeliengrund zu stürzen wie braune Papierpakete polternd durch die Postpipeline!"

Zusammen mit ihrem Mann Leonard Woolf gründete Virginia Woolf 1917 den Verlag «The Hogarth Press». Dort veröffentlichte sie 1921 den mit der Handpresse gedruckten Band «Monday or Tuesday», der mit Holzschnitten ihrer Schwester Vanessa Bell illustriert wurde. Die in dieser Sammlung enthaltenen Geschichten sind ausdrucksstarke, oftmals «impressionistische» Studien. Die intensive Betrachtung einer Schnecke, die unter einem farbigen Blütenmeer entlangkriecht, eines Reihers, der hoch in den Lüften schwebt, eines Kronleuchters, der im Licht zu flüssigem Grün zerfließt, oder auch nur einer Stelle an der Wand im Schein des Kaminfeuers löst eine faszinierende Vielfalt von Eindrücken, Assoziationen und Perspektivwechsel aus. Bereits in diesen frühen Erzählungen setzt Woolf überzeugend das Stilmittel des Bewusstseinsstroms ein, der ihre berühmten späteren Romane wie z.B. «Mrs Dalloway» kennzeichnet – die Geschichten sind somit erste wichtige Fingerübungen einer Schriftstellerin von Weltrang.

978-3-406-78018-9
C.H.Beck Verlag 2022
Hardcover, 112 S., mit 5 Abbildungen