Pressespiegel - Unter Schnee

Stillleben im Schnee

Sanatoriumsträume träumt man in der deutschen Literatur am liebsten hoch oben in den Bergen und bei strahlend blauem Himmel. Antje Rávic Strubels zweiter Roman kommt erfrischend unbeeindruckt von solchen literarischen Gipfelstürmereien daher. Hier wickeln sich zwei junge Frauen an einer Talstation im tschechischen Riesengebirge in dicke Decken und warten auf den angekündigten Schneefall. Während die eine - Vera, Studentin aus Mainz - die Wolken wegreden will, flüchtet sich die andere - Evy, Laborantin aus Senftenberg - in die neblige Winterstille. Ein Gespräch kommt so nicht zustande, und weil sich bei dem Wetter und von diesem Standort aus auch kein Panoramablick ergeben kann, dreht die Autorin die Erzählperspektive um. In den zwölf weiteren Episoden des Romans tauchen die zwei Frauen am Horizont der Bewohner des kleinen Wintersportortes auf, die nun ihrerseits Mutmaßungen über die Beziehung anstellen. Das ist gut gemacht und unterhaltsam, ja mehr als das. Wenn die fast 100jährige Wirtin darüber nachdenkt, warum die zwei Frauen nicht mehr miteinander reden, sich ein pensionierter Postbeamter ihre Wirklichkeit aus den Karten und Briefen falsch zusammensetzt, die immer noch über seinen Tresen gehen, und ein Skiverleiher, nur weil er etwas falsch versteht, einer der beiden einen Rat geben kann, dann wird nict nur von den Schwierigkeiten dieser ost-westdeutschen Liebesgeschichte erzählt. Strubel lauscht der Landschaft selbst und ihren Bewohnern die Geschichten ab. In der verhaltenen Figurenzeichnung und dem genauen Blick auf das Geschehen in einer abseitigen Talsohle liegt dabei weit mehr an Welt, als in jenem diffusen Licht, das jetsettende Autorenkollegen auf das Partyleben europäischer Großstädte zu werfen pflegen.
Uta Beiküfner, Financial Times Deutschland

 

Eigenartige Liebe

Antje Rávic Strubel schreibt für Menschen, die beides gleichzeitig können: einen Roman in einem Zug durchlesen und totzdem das nicht verpassen, was, ein bißchen versteckt, mit eingewoben ist. Denn Text aus der Tastatur der 27jährigen Potsdamer Autorin istText in seiner ursprünglichen Bedeutung. Gewirktes. Geflecht. Sicher: Auch wer nicht merkt, daß die Kapiteltitel nach dem Alphabet geordnet sind, wird etwas haben von diesem Episodenroman, der in 13 Abschnitten eine eigenartig stille Liebesgeschichte erzählt. Es ist die Geschichte vom Stillstand der Liebe im Schnee am tschechischen Urlaubsort, eine Geschichte von Zweifel, Schweigen und Neuanfang. "Wenn wir die Szene wiederholen würden", erinnert sich Vera an einen gemeinsamen Tag in Paris ganz am Anfang ihrer Beziehung, "würde ich es wahrscheinlich wieder falsch machen." Und Strubel, bei der jedes Wort leicht kommt und schwer wiegt, läßt Evy leise antworten: "Wir sind kein Theater. Wir wiederholen die Szenen nicht." Dafür ist der Winterurlaub, der zur Wende wird, in Szenen erzählt. Mal wird der Lesende zum Postangestellten, der bei der Arbeit heimlich die Ansichtskarten liest und sich einen Reim darauf zumachen versucht, mal zur Pensions-Besitzerin, die "überlegt, ob sie damals überhaupt etwas gehabt haben. Außer ihrer Liebe." Antje Rávic Strubel sieht den Menschen mikroskopisch nah auf den Mund und die Finger, ohne wertend oder gnadenlos zu sein. Zusammengepuzzelt wird aus den 13 Stücken das Bild der schwierigen Liebe zwischen den beiden Frauen, um die es in jeder Zeile geht.
Franziska Feinäugle, Heilbronner Stimme


Antje Rávic Strubels turbulenter Episodenroman "Unter Schnee"

Eingewickelt in kratzige Decken liegen Vera und Evy auf der Terrasse der Bergpension. Schnee ist angekündigt, ein Sturm, die Lifte sind lahmgelegt, die Skipisten des tschechischen Ortes Harrachov geschlossen. Stillstand. Es geht nicht vor und nicht zurück, die beiden sind zum Nichtstun verdonnert, die Nähe wird zu eng. Vera verschwindet. "Als gäbe es für sie nur zwei Aggregatzustände. Sobald es nicht siedendheiß geht, will sie weg." Das sagt Evy sechs Episoden später über Vera.

Da wissen wir schon, dass Vera aus West- und Evy aus Ostdeutschland stammt, dass sie sich bei einem rasanten Skiunfall kennengelernt haben, dass Vera die Forschere und Schlagfertigere und Evy die Geduldigere und Vernünftigere von beiden ist und dass Vera und Evy ein Paar sind. Ein Paar, das nach zwei Jahren Fernbeziehung zwischen Mainz und Senftenberg in der Lausitz das Miteinander-Eingesperrtsein erst einmal aushalten lernen muss.

Dazwischen macht uns Antje Rávic Strubel auf atemberaubende Weise mit dem restlichen Personal dieses Winterurlaubs bekannt: Mit der Vermieterin der kleinen Pension, Frau Beran, die vor 28 Jahren ihren Mann verloren hat, weil die Rettungshubschrauber alle zu einer militärischen Übung abkommandiert waren; mit Evys Mitbewohner Sebastian, der 1989 in einem kleinen, aber wirksamen Akt der Subversion seine Kompanie, die gegen Demonstranten und Mauerstürmer vorgehen sollte, besoffen und damit einsatzunfähig gemacht hat; mit der Familienmutter im Erdgeschoss, deren Mann eine Variante des "Underdog" abgibt; mit dem Skiladen-Besitzer Martin, der gern besser Deutsch spräche, um mit Evy ein gewandteres Gespräch führen zu können; und mit dem Postbeamten Erik M. Broda, der seine flotte Chefin Simona verabscheut und "investigativen Journalismus" betreibt, indem er die Postkarten der Feriengäste liest. "Möchte ihr in den Kopf gucken", schreibt Vera da über Evy, "kann es aber nicht".

In dreizehn haargenau austarierten und raffiniert verschränkten Episoden nähert sich die Autorin in ihrem zweiten Roman "Unter Schnee" dem an, was zwischen Vera und Evy heiß und kalt stattfindet - indem sie durch gekonnte Perspektivenwechsel vom eigentlichen Zentrum des Buchs abrückt. Die Beziehung zwischen Vera und Evy entfaltet sich nämlich vor allem dort, wo sie die Geschichten der anderen Figuren streift. Ob der Saunagänger Eduard Schmidt in ihnen seine Tochter sieht oder die internetsüchtige Adina die Spice Girls, die Annäherung zwischen den Frauen findet unter wechselnder Beobachtung statt. Oberflächen werden abgetastet, das Denken der Figuren an deren Blicken und Gesichtsausdrücken erforscht. Strubel gelingt es eindrucksvoll, in Anspielungen und Gesten Erzählbares zu entdecken.

Der Schnee, das große Nichts, wirkt als Katalysator, bringt die Menschen dazu, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Vera wird vom Schnee verschluckt und taucht und taut, gerettet von der Bergwacht, ein wenig gefühlssicherer wieder auf, Evy wird sich beim Warten darauf ihrer Sehnsüchte bewusst. Die Krise kann ausagiert und überwunden werden, bei ihrer Abreise sind Vera und Evy "über den Berg" - und müssen sich wieder trennen. Wir sind hier nicht im Davoser Sanatorium. Auf dem tschechischen Berg gibt es kein erhellendes rhetorisches Gesprächsgestöber, sondern enggeführte, knappe Dialoge, kein minutiöses Mitverfolgen der Entwicklungsschritte einzelner Figuren, dafür: genau beobachtete Kurzszenen, Detaileinblicke in kunstvoll zusammengewürfelte Lebensausschnitte. Ein und dieselbe Begegnung wird aus unterschiedlichen Sicht- und Erlebensweisen berührt, ein einmal geäußerter Satz geistert in verschiedenen Varianten durch die Texte, da jede Figur in der Erinnerung eine eigene Version des Geschehens hegt.

Unglaublich, wie spannend das Ganze durch diesen Kniff wird. Strubel, die in diesem Jahr 27 Jahre alt und in Klagenfurt mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet wurde, setzt nicht schlicht Puzzlestücke zusammen, sondern blendet eigens ausgeleuchtete Momentaufnahmen so ineinander über, dass ein vieldimensionales Bild der Liebesbeziehung zwischen Vera und Evy entsteht. Und ganz nebenbei auch das Stimmungsbild eines postsozialistischen Dorfes, in dem dubiose Geschäfte abgewickelt werden und so mancher eine Spitzel-Vergangenheit hat. In "Unter Schnee" werden durch Strubels präzise, angenehm unaufdringliche Schreibweise und ihren erzählerischen Kunstgriff ,heiße' Themen elegant zerstäubt und so weit heruntergekühlt, bis sie kristallisieren und sich in zauberhaften Formen über die Szenerie legen. Die in viele Einzelteile zersprengte innere Handlung gewinnt durch diesen kühlen Überzug um so deutlichere Konturen.
Charlotte Brombach, Frankfurter Rundschau